Nachwort.
Nachdem dieses Stück geschrieben war, lag ich in jenem Herbst 2019 wach und dachte viel über alles nach – zu sehr war ich in diese Geschichte eingetaucht. In die Welt dieser Frau, die vor Hitler in die Sowjetunion geflohen war, die ihr und ihrem Mann wie das gelobte Land erschienen sein muss. Doch das gelobte Land wurde für beide zur Falle. Sie starben beide hier. Und ich habe versucht, herauszufinden – wie ist das überhaupt möglich? Wie konnten die Menschen damals die Kraft finden, zu leben, auf etwas zu hoffen? Ich dachte darüber nach, was ich über diese schreckliche Zeit wusste. All diese Erinnerungen, all diese Geschichten. Und plötzlich fiel mir ein, dass ich bereits über Carola Neer gelesen hatte! Nur dass dort ihr anderer Name, oder besser gesagt ihr doppelter Nachname, erwähnt wird, und ich konnte nicht sofort vergleichen, dass es sich um dieselbe Person handelt. Ich habe über sie in "Harte Marschroute" von Jewgenija Ginsburg gelesen. Diese beiden Passagen:
"Jetzt befinde ich mich in einem großen Raum voller nackter und halbbekleideter Frauen. Schwarze Zecken heben die Wärterinnen in dunklen Jacken hervor. Bäder? Medizinische Untersuchung? Nein. Massenhafte Leibesvisitationen der Neuankömmlinge.
– Ziehen Sie sich aus. Lockern Sie Ihr Haar. Öffnen Sie Ihre Finger. Füße. Öffnet den Mund. Spreizen Sie Ihre Beine.
Mit steinernen Gesichtern und präzisen, geschäftsmäßigen Bewegungen wühlen die Wärter in den Haaren, als suchten sie nach Läusen, schauen in Mund und Anus. Auf den Gesichtern einiger der durchsuchten Frauen steht Angst, auf anderen Abscheu. Auffallend ist die große Zahl intelligenter Personen unter den Verhafteten. Die Arbeit geht zügig voran. Auf einem langen Tisch wächst ein Berg ausgewählter Dinge: Broschen, Ringe, Uhren, Ohrringe, Gummibänder, Notizbücher. Es sind Moskauerinnen, die erst heute verhaftet wurden. Sie sind gerade von zu Hause gekommen und haben alle möglichen hübschen kleinen Dinge dabei. Für sie ist es noch härter als für mich. Ich habe den Vorteil, daß ich sechs Monate Erfahrung habe und nichts zu verlieren.
– Ziehen Sie sich an!
Plötzlich kommt ein junges Mädchen, fast noch ein Kind, mit kurz geschnittenem Haar "wie ein Junge", auf mich zu.
– Bist du ein Parteimitglied, Genosse? Wundern Sie sich nicht, dass ich das hier frage. Deinem Gesicht entnehme ich, dass du ein Kommunist bist. Antworte mir, es ist sehr wichtig für mich. Ja? Nun, ich bin ein Komsomol-Mitglied. Mein Name ist Katya Shirokova. Ich bin 18 Jahre alt. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Gib mir einen Rat. Sieh mal, die deutsche Frau da drüben hat ein paar goldene Sachen in ihrem Haar versteckt. Soll ich es der Direktorin sagen? Ich bin ratlos. Einerseits ist Denunziation ekelhaft. Andererseits ist dies ein sowjetisches Gefängnis, und sie könnte der wahre Feind sein.
– Was ist mit dir und mir, Katya?
– Nun, es ist natürlich ein Fehler. Wenn du Holz hackst, fliegen die Späne. Ich bin sicher, sie werden uns rauslassen. Aber es ist furchtbar schwer zu entscheiden, wie man sich im Allgemeinen und in diesem Fall verhalten soll...
Ich betrachte die Frau, auf die Katya hingewiesen hat. Ich sehe ein Gesicht von außergewöhnlicher zarter Schönheit und Charme. Dann erfahre ich, dass es sich um die berühmte deutsche Filmschauspielerin Carola Neher-Geinschke handelt. Zusammen mit ihrem Ingenieur-Ehemann kam sie im 34. Jahr in die UdSSR. Zwei Ringe, die sie erfolgreich vor den wachsamen Augen des Aufsehers versteckt hatte, waren eine Erinnerung an ihren Mann, den sie bereits für tot hielt. Mit der geschickten Bewegung einer Schauspielerin, die oft in Abenteuerfilmen mitspielt, gelang es ihr, die beiden Goldstücke in der goldenen Fülle ihres Haares zu verstecken. Das süße, amüsierte Gesicht von Katya Shirokova starrte mich mit einer fordernden Frage an.
– Willst du eine Anweisung, Katjuscha?
– Nun, zumindest in diesem Fall. Mit dieser deutschen Frau...
– Weißt du was, Katja... Da wir jetzt nackt sind, sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne, halte ich es für das Beste, wenn wir uns bei unseren Handlungen von diesem unterbewussten Ding namens Gewissen leiten lassen. Und das scheint dir zu sagen, dass Petzen eine Abscheulichkeit ist?
So wurden die beiden Ringe von Carola Heinschke gerettet. Allerdings nicht für lange, genau wie Carola selbst.
Später, bereits auf der Durchreise, im "Stolypin-Wagen", traf Jewgenija Ginsburg Carola wieder:
"– Ach, Genossin, wir sind doch bekannt.....
Ich erkenne sofort die goldhaarige deutsche Filmschauspielerin Carola Neher-Geinschke, dieselbe, die bei jener denkwürdigen ersten Durchsuchung in der Flasche ihre goldenen Sachen versteckt hatte. Carola hatte sich seither sehr verändert. Das dunkle Gold ihrer Haare war verblasst, und dünne, traurige Falten zeichneten ihren Mund. Aber sie war noch charmanter als früher. Ein Gesicht so weiß wie Elfenbein, ohne den geringsten Anflug von Röte, ein kindliches Lächeln, traurige dunkelgelbe Bernsteinaugen. Der Satz von Carola war eine Wiederholung meines eigenen. Nur war sie natürlich tausendmal schlechter dran als ich, weil sie obendrein keine Sprache hatte. In der Zelle, in die man sie gesteckt hatte, sprach niemand Deutsch.
Und jetzt, wo sie sich an ein paar zufällige Sätze erinnert, die wir bei unserem ersten Treffen ausgetauscht haben, ist sie froh, dass sie einen Gesprächspartner gefunden hat, der ihre Sprache spricht, wenn auch mit Fehlern. Sie weiß nichts über ihren Mann. Aber sie ist sich sicher, dass er nicht mehr am Leben ist. Es trügt nicht, dieses Gefühl der unentrinnbaren, ewigen Einsamkeit, das Carola hier nun immer hat... Sie zeigt nicht auf ihr Herz, sondern auf ihre Kehle".
Jewgenija Ginsburg “Harte Marschroute”