Carola Neher


Die Geschichte der Übersetzung

eines Gedichtes

Anfang Oktober 2019 habe ich meine Freundin Anastasia in Berlin getroffen. Sie brachte mir Geschenke zu meinem letzten Geburtstag und sagte:
– Irina, erstens gefällt es mir sehr, dass du Deutsch lernst. Und zweitens, als ich überlegt habe, was ich dir schenken soll, bin ich in meine Lieblingsbuchhandlung in Essen gegangen. Ich habe ihr erzählt, dass ich eine Freundin habe, die Deutsch lernt und ihre eigenen Geschichten schreibt. Haben Sie einen Tipp, was für ein Buch ich ihr schenken soll? Vielleicht Märchen?
Aber die Besitzerin der Buchhandlung empfahl mir dieses Buch und ich dachte — ja, das ist es. Ich glaube, du kannst es lesen. Es gibt zum Beispiel eine Geschichte namens "Die Zigerette". Versuch es, es ist einfach, vielleicht fängst du damit an? Es ist eine Sammlung von Geschichten von Frauen, die in den zwanziger Jahren gelebt haben.
Ich nahm das Buch und las den Titel auf Deutsch. Und ich fragte:
– Die wilden Zwanzigerjahre?
– Ja, die wilden Zwanzigerjahre. — antwortete Anastasia. – Du weißt es.
Natürlich wusste ich das. Erstaunliche, verrückte Zeit. Die wilden Zwanziger. Bobfrisuren, Rennautos, Mundstücke, Jazz, Tanzen, Sport, Sex, Kunst - es war, als ob alles außer Kontrolle geraten wäre. Von allem gab es einen Überfluss. Schöne, unabhängige Frauen in ausgefallenen Kleidern. Ein unstillbares Verlangen nach Freiheit und Lebenslust. Jugend, Risiko, Tempo — das war das Motto jener Jahre. Für die Frauen schien damals alles möglich: Sie waren frei von Korsetts, langen Haaren, langen Kleidern, nervigen und langweiligen Ehemännern. Nachdem der Erste Weltkrieg fast eine ganze Generation von Männern zerstört und traumatisiert hatte, holten sich die Frauen zurück, was bis dahin nur den Männern gehört hatte. Eine wunderbare Zeit der kühnen Träume, Hoffnungen und überschwänglichen Gefühle.

Das Cover des Buches, das Anastasia geschenkt hat
Frauen in Pelzmänteln stehen vor einem Cabrio, um 1920.
Berliner Frauen beim Rauchen auf der Straße, um 1925.
Quelle: https://allthatsinteresting.com
Das Gedicht – es ermutigte mich. Erstens kamen darin viele bekannte Wörter vor
Um ehrlich zu sein, habe ich dieses Buch immer wieder zur Hand genommen. Ich sah mir die Texte an, versuchte, vertraute Wörter zu finden und die Bedeutung des Geschriebenen zu erfassen. Aber die Wörter blieben nur einzelne Wörter, ich verstand die Bedeutung nicht und konnte nur raten, was dort geschrieben stand.
Das Buch besteht aus fünf Abschnitten. Sie heißen: "Die neue Frau", "Liebesleidenschaft und Liebeslast", "Das Mädchen an der Schreibmaschine", "Die modische Frau", "Bewegungszwang und das Streben nach Freiheit".
Die Kurzgeschichte "Die Zigerette", von der Anastasia sprach, blieb mir unverständlich. Entmutigt blätterte ich hin und her, bis ich schließlich ganz am Ende des Buches ein Gedicht von Carola Neer mit dem Titel "Sport" entdeckte.
Das Gedicht – es ermutigte mich. Erstens kamen darin viele bekannte Wörter vor.
Zweitens war es klein, und ich machte mich mit Begeisterung an die Arbeit. Aber nach dem ersten Abschnitt, der nicht nur deutsche, sondern auch französische und englische Wörter enthielt und mit dem ich nur schwer zurechtkam, begann ich den zweiten Abschnitt und stolperte sofort. Es gab nicht nur unbekannte Wörter, sondern auch einige obskure Namen und komplexe Wortkombinationen. Ich war frustriert und gab auf.
–Nein, dachte ich. – Das ist immer noch zu kompliziert für mich.

Seite aus dem Buch und Versuche der Übersetzung
Sport

Ich liebe den Sport
Tous les sports d’ete et d’hiver
Eishockey
Eiscremsoda
Bob mit Bobby
Germans
Playing Golf in Germany Und Polo in Brioni!

Ich ritt in Baden-Baden
Um fünf Uhr früh die Oos entlang
Ich fuhr einen kleinen Steyrwagen
In Wien zuschanden
Ich segelte auf dem Wannsee
Schwamm am Lido
Und bin sogar (wenn auch widerstrebend)
Den Watzmann hinaufgeklettert.

Ich kann Spagat
Rad fahren
Rad schlagen,
Ich lauf gern Eis
Aber noch lieber: Gefahren

Ich flog
Aus meinem ersten Engagement
Und mit dem Wasserflugzeug
Von Triest nach Venedig.
Motorrad rasselte ich den Feldberg hinunter
An einer scharfen Kurve
War es beinah schief gegangen

Ich tanz
Black and White bottom
Und manchem auf der Nase herum
Ich spiele
Klavier
Poker
Wasserball
Erdball
Und Theater.
Ich habe etliche Herzen
Knock-outgeschlagen.
Ski-heil!
Am nächsten Tag beschloss ich – na gut, vielleicht übersetze ich erst einmal den dritten Absatz, der scheint einfach zu sein, aber es stellte sich heraus, dass die direkte Übersetzung irgendeinen Unsinn ergibt. Ich versuchte es mit dem dritten, vierten und überall – ein kompletter Fehlschlag. Eine Reihe von Wörtern, die nicht den geringsten Sinn ergeben. Frustriert beschloss ich, nachzuschlagen, wer Carola Neer war. Zu meiner Schande wusste ich nichts über sie. Und das ist, was ich herausgefunden habe.

Carola wurde 1900 in München als Tochter eines Musiklehrers und einer Hausfrau geboren. Sie studierte und arbeitete in einer Bank. Sie war sehr ehrgeizig, träumte davon, Schauspielerin zu werden. Nun, ihr Traum ging in Erfüllung. 1920 bekam sie eine Stelle am Theater in Baden-Baden, spielte unbedeutende kleine Rollen. Sie wechselte mehrere Theater in verschiedenen Städten, bis sie schließlich ein Engagement am Münchner Theater bekam. Doch auch dort waren die Rollen zunächst klein.
Carola Neher, Mitte der Zwanziger Jahre (Archiv der Familie Becker) Quelle: pmem.ru/6142.html
Carola Neher, 1925 (Archiv Philipp Kester) Quelle: Wikipedia
Plakat zum Film "Die Dreigroschenoper". Quelle: www.freeshows.ru/films/8492
Danach spielt Carola an Theatern in Nürberg, Breslau und Darmstadt. In der ersten Hälfte der zwanziger Jahre lernt Carola den Dichter und Dramatiker Bertolt Brecht kennen. Diese Bekanntschaft wird für beide bedeutsam. Brecht sah in der Schauspielerin ein großes Talent und betrachtete sie als seine Muse, schrieb eigens für sie mehrere Rollen in seinen Stücken. So zum Beispiel in "Die Dreigroschenoper" und "Die heilige Johanna der Schlachthöfe".
Leider konnte Karola aufgrund persönlicher Umstände nicht an der Theateraufführung "Die Dreigroschenoper" teilnehmen, aber später, 1931, spielte sie die von Brecht für sie geschriebene Rolle der Polly Peachum in dem gleichnamigen Film unter der Direktor von Georg Wilhelm Pabst.
Carola Neher als Johanna, 1930 (Karl Schrecker) Quelle: Wikipedia
Bilder aus dem Film "Die Dreigroschenoper" Quelle: www.cyranos.ch/sm3-d.htm
Wenn Sie mich ganz ungeniert anstarren wollen, müssen Sie ins The­ater kommen
Im Jahr 1924 lernt Carolla in München den Dichter und Dramatiker Alfred Henschke kennen, der unter dem Pseudonym Klubund schrieb.
Die Legende besagt, dass die Geschichte dieser Begegnung folgendermaßen ablief.
Kurt Wafner:
"…Er trifft sie in der Straßenbahn. In München. In der Nähe vom "Cafe Stefanie"‘. Er schaut sie unentwegt an, bis sie ihm zuflüstert: "Wenn Sie mich ganz ungeniert anstarren wollen, müssen Sie ins The­ater kommen. Ich spiele heute in den Kammerspielen den Hugenberg in der "Büchse der Pandora“. Klabund lächelte: "Natürlich komme ich und schaue dich weiter an!"
So begann Klabunds Bekanntschaft mit der Schauspielerin Carola Neher.“ (Quelle:klabund.eu/biographie)

Am 5. Mai 1925 heirateten sie.
Das gemeinsame Leben dieser beiden Menschen war ziemlich nervenaufreibend. Klaus Mann erzählt in seiner Autobiographie von seinen Begegnungen mit dem Paar:
"Es war beunruhigend, sie zu beobachten, so sehr liebte er sie. Ich werde nie den gedämpften, sanften Ton vergessen, mit dem er zu ihr sprach".
Herbst 1925. Klabunde ist wieder in Breslau in Behandlung. Carola spielt eine Hauptrolle nach der anderen, und er schreibt und wartet auf sie. Im November schreibt Hermann Hesse diese Zeilen:
"Obwohl sie nach außen hin so tat, als ob sie sich den Männern unterordnete – ihre Souveränität und Freiheit verteidigte sie unter allen Umständen. Dabei half sie übrigens mit und veränderte in den zwanziger Jahren die Rolle der Frau. Das Verhalten der Frauen wurde anders und wollte nichts mehr mit dem weiblichen Stereotyp der Vorkriegszeit gemein haben".

Carola lebte das Leben, das sie sich selbst aufgebaut hatte – Theater, Sport, Liebe, Autorennen, Wasserflugzeuge, Proben – das Leben einer freien Frau.

Im Jahr 1925 wurde in Meissen die Uraufführung des Stücks zum Drama Klabunda "Der Kreidekreis" statt, in dem Carola eine der Rollen spielte. Dies war ihr erster grosser Erfolg auf der Bühne. Sie spielte viel in Wien und in ganz Deutschland. Anfang 1928 ging sie nach Berlin, wo sie mit Bertolt Brecht die Rolle der Polly in "Die Dreigroschenoper" einstudierte. Ihre Rolle in der Premiere konnte sie nicht spielen, denn am 14. August 1928 starb Klabund an Tuberkulose und Lungenentzündung in Davos, sie war an seiner Seite. So endete ihre kurze, aber sehr emotionale Liebesgeschichte.

Carola Neer als Haitan in dem Stück "Der Kreidekreis" von Klabund.
Sammlung der Familie Becker Quelle: pmem.ru/6142.html
Klabund, 1928 Bundesarchiv, Bild 102-06394 (Georg Pahl) Quelle: Wikipedia
Carola Neher + Klabund Quelle: Akademie der Künste (AdK) Berlin
Leider waren die Dinge von hier an nicht mehr so glücklich und wunderbar. Die wilden Zwanzigerjahre waren vorbei, Klabund starb.
1932 heiratete Carola Neher einen rumänischen Ingenieur, Anatol Becker. Nachdem Hitler an die Macht gekommen war, mussten Carola und ihr Mann im Sommer 1933 Deutschland verlassen. Zunächst gingen sie nach Prag, wo sie am Neuen Deutschen Theater in "Pygmalion" und in "Der Widerspenstigen Zähmung" spielte, und 1934 kamen beide mit einem Touristenvisum in die Sowjetunion, wo sie voller Hoffnung beschlossen, zu bleiben und zu arbeiten. Nach der Machtübernahme durch die Nazis unterzeichneten Becker, Carola und andere deutsche Emigranten 1934 einen Brief gegen die Annexion des Saarlandes durch Hitler. Im November desselben Jahres wurde Carola Neher die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen.
Am 26. Dezember 1934 kam ihr Sohn Georg zur Welt. Die in Prag erscheinende kommunistische Emigrantenzeitung "Arbeiter Illustrierte Zeitung" veröffentlichte einen Artikel "Antifaschistische Kulturschaffende in der Sowjetunion" mit einem Foto von Carola Neher mit dem kleinen Georg und der Bildunterschrift: "Carola Neher, eine berühmte deutsche Schauspielerin, wurde Mutter eines kleinen Sowjetbürgers".
Carola Neher mit ihrem Sohn Georg. Moskau, 1934 ("Arbeiter Illustrierte Zeitung") Quelle: ru.openlist.wiki
Wie entwickelt sich mein Sohn körperlich und geistig? Wie ist sein Gesundheitszustand? Wie ist sein Gewicht und seine Größe? Was macht er? Lernt er bereits lesen und schreiben? Sie verstehen, dass ich mich auf den Tag freue, an dem ich ihm direkt schreiben kann. Wann wird er eingeschult? Weiß er etwas über seine Mutter?
In Moskau tritt Carola in Clubs auf, hält Vorträge und gibt Schauspielunterricht. Auf Einladung des deutschen Regisseurs Erwin Piscator, der ebenfalls in die Sowjetunion emigriert ist, erklärt sie sich bereit, in dem Film "Rotes deutsches Wolgagebiet" mitzuspielen. Doch die Pläne sollten sich nicht erfüllen – am 12. Mai 1936 wird ihr Ehemann Anatol Becker verhaftet, am 25. Juni dann auch Karola Neer selbst. Am 16. Juli 1937 wurde sie unter dem Vorwurf der Spionage zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt. Zu diesem Zeitpunkt war ihr Mann, von dessen Schicksal sie nichts wusste, bereits vom NKWD erschossen worden.
Ihr Sohn Georg war in ein Waisenhaus geschickt worden. Karola versuchte, etwas über das Schicksal ihres Sohnes herauszufinden. Im Gefängnis schrieb Karola Neer einen Brief an den Leiter des Waisenhauses. Das ist der Brief:

"An die Leiterin des Waisenhauses:
L. Konica

An die Unterzeichner unten, die Mutter des deutschen Jungen Becker, Georgi Anatolievich, geb. 1934 in Moskau, der sich in Ihrem Waisenhaus befindet. Da ich seit 1-1/2 Jahren nichts mehr von meinem Sohn weiß, bitte ich Sie, mir folgende Fragen zu beantworten:
Wie entwickelt sich mein Sohn körperlich und geistig? Wie ist sein Gesundheitszustand? Wie ist sein Gewicht und seine Größe? Was macht er? Lernt er bereits lesen und schreiben? Sie verstehen, dass ich mich auf den Tag freue, an dem ich ihm direkt schreiben kann. Wann wird er eingeschult? Weiß er etwas über seine Mutter?
Bitte schicken Sie mir ein aktuelles Foto von ihm. Ist er musikalisch? Zeichnet er? Wenn ja, schicken Sie mir ein Bild, auf dem er zeichnet!
Ich freue mich auf Ihre Antwort. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen für alles Gute, das Sie für mein Lieblingskind tun können!

Genschke Caroline N.
10.3.1941, Orel, Postfach 15.
Ich entschuldige mich für die Unzulänglichkeiten im Brief, ich spreche kein Russisch".

Sie hat keine Antwort erhalten. Das machte sie verrückt, sie machte sich große Sorgen um ihren Sohn und litt sehr unter der Trennung von ihm. Sie versuchte, in der im Gefängnis Lubjanka Selbstmord zu begehen.
Aus den Memoiren von Margaret Buber-Neumann, die Carola im Butyrka-Gefängnis kennenlernte:
"Als ich sie umarmte, schluchzte sie und sagte: Ich bin verloren. Das war das letzte, was ich von ihr hörte. Ich habe sie nie wieder gesehen".
Bertolt Brecht versuchte, seiner Muse zu helfen, aber alle seine Versuche scheiterten.

Die deutsche Schauspielerin Carola Neher, Häftlingsnummer 59783, starb am 26. Juni 1942 im Gefängnis Sol-Iletsk an Typhus. Sie war 41 Jahre alt.
Karola Neers und Anatol Becker Sohn Georg wusste viele Jahre lang nicht, wer seine Eltern waren.
Gefängnisfoto von Carola Neher, 1936. Quelle: ru.openlist.wiki
Am 30. Oktober 1990 wurde auf dem Lubjanka-Platz in Moskau der Solowezki-Stein (russisch Solowezki kamen, der aus dem Gebiet des ehemaligen Lagers Solowezki (Gulag) stammt) aufgestellt. Seit dem 29. Oktober 2007 versammeln sich Menschen um den Stein und verlesen die Namen derjenigen, die während des stalinistischen Terrors ums Leben kamen.
Seit 2020 ist die Aktion "Rückkehr der Namen" von der Moskauer Regierung verboten worden.
Im Herbst 2019 habe ich den Namen von Carola Neher am Solowezkij-Stein verlesen.
Nachwort.
Nachdem dieses Stück geschrieben war, lag ich in jenem Herbst 2019 wach und dachte viel über alles nach – zu sehr war ich in diese Geschichte eingetaucht. In die Welt dieser Frau, die vor Hitler in die Sowjetunion geflohen war, die ihr und ihrem Mann wie das gelobte Land erschienen sein muss. Doch das gelobte Land wurde für beide zur Falle. Sie starben beide hier. Und ich habe versucht, herauszufinden – wie ist das überhaupt möglich? Wie konnten die Menschen damals die Kraft finden, zu leben, auf etwas zu hoffen? Ich dachte darüber nach, was ich über diese schreckliche Zeit wusste. All diese Erinnerungen, all diese Geschichten. Und plötzlich fiel mir ein, dass ich bereits über Carola Neer gelesen hatte! Nur dass dort ihr anderer Name, oder besser gesagt ihr doppelter Nachname, erwähnt wird, und ich konnte nicht sofort vergleichen, dass es sich um dieselbe Person handelt. Ich habe über sie in "Harte Marschroute" von Jewgenija Ginsburg gelesen. Diese beiden Passagen:

"Jetzt befinde ich mich in einem großen Raum voller nackter und halbbekleideter Frauen. Schwarze Zecken heben die Wärterinnen in dunklen Jacken hervor. Bäder? Medizinische Untersuchung? Nein. Massenhafte Leibesvisitationen der Neuankömmlinge.
– Ziehen Sie sich aus. Lockern Sie Ihr Haar. Öffnen Sie Ihre Finger. Füße. Öffnet den Mund. Spreizen Sie Ihre Beine.
Mit steinernen Gesichtern und präzisen, geschäftsmäßigen Bewegungen wühlen die Wärter in den Haaren, als suchten sie nach Läusen, schauen in Mund und Anus. Auf den Gesichtern einiger der durchsuchten Frauen steht Angst, auf anderen Abscheu. Auffallend ist die große Zahl intelligenter Personen unter den Verhafteten. Die Arbeit geht zügig voran. Auf einem langen Tisch wächst ein Berg ausgewählter Dinge: Broschen, Ringe, Uhren, Ohrringe, Gummibänder, Notizbücher. Es sind Moskauerinnen, die erst heute verhaftet wurden. Sie sind gerade von zu Hause gekommen und haben alle möglichen hübschen kleinen Dinge dabei. Für sie ist es noch härter als für mich. Ich habe den Vorteil, daß ich sechs Monate Erfahrung habe und nichts zu verlieren.
– Ziehen Sie sich an!
Plötzlich kommt ein junges Mädchen, fast noch ein Kind, mit kurz geschnittenem Haar "wie ein Junge", auf mich zu.
– Bist du ein Parteimitglied, Genosse? Wundern Sie sich nicht, dass ich das hier frage. Deinem Gesicht entnehme ich, dass du ein Kommunist bist. Antworte mir, es ist sehr wichtig für mich. Ja? Nun, ich bin ein Komsomol-Mitglied. Mein Name ist Katya Shirokova. Ich bin 18 Jahre alt. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Gib mir einen Rat. Sieh mal, die deutsche Frau da drüben hat ein paar goldene Sachen in ihrem Haar versteckt. Soll ich es der Direktorin sagen? Ich bin ratlos. Einerseits ist Denunziation ekelhaft. Andererseits ist dies ein sowjetisches Gefängnis, und sie könnte der wahre Feind sein.
– Was ist mit dir und mir, Katya?
– Nun, es ist natürlich ein Fehler. Wenn du Holz hackst, fliegen die Späne. Ich bin sicher, sie werden uns rauslassen. Aber es ist furchtbar schwer zu entscheiden, wie man sich im Allgemeinen und in diesem Fall verhalten soll...
Ich betrachte die Frau, auf die Katya hingewiesen hat. Ich sehe ein Gesicht von außergewöhnlicher zarter Schönheit und Charme. Dann erfahre ich, dass es sich um die berühmte deutsche Filmschauspielerin Carola Neher-Geinschke handelt. Zusammen mit ihrem Ingenieur-Ehemann kam sie im 34. Jahr in die UdSSR. Zwei Ringe, die sie erfolgreich vor den wachsamen Augen des Aufsehers versteckt hatte, waren eine Erinnerung an ihren Mann, den sie bereits für tot hielt. Mit der geschickten Bewegung einer Schauspielerin, die oft in Abenteuerfilmen mitspielt, gelang es ihr, die beiden Goldstücke in der goldenen Fülle ihres Haares zu verstecken. Das süße, amüsierte Gesicht von Katya Shirokova starrte mich mit einer fordernden Frage an.
– Willst du eine Anweisung, Katjuscha?
– Nun, zumindest in diesem Fall. Mit dieser deutschen Frau...
– Weißt du was, Katja... Da wir jetzt nackt sind, sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne, halte ich es für das Beste, wenn wir uns bei unseren Handlungen von diesem unterbewussten Ding namens Gewissen leiten lassen. Und das scheint dir zu sagen, dass Petzen eine Abscheulichkeit ist?
So wurden die beiden Ringe von Carola Heinschke gerettet. Allerdings nicht für lange, genau wie Carola selbst.

Später, bereits auf der Durchreise, im "Stolypin-Wagen", traf Jewgenija Ginsburg Carola wieder:
"– Ach, Genossin, wir sind doch bekannt.....
Ich erkenne sofort die goldhaarige deutsche Filmschauspielerin Carola Neher-Geinschke, dieselbe, die bei jener denkwürdigen ersten Durchsuchung in der Flasche ihre goldenen Sachen versteckt hatte. Carola hatte sich seither sehr verändert. Das dunkle Gold ihrer Haare war verblasst, und dünne, traurige Falten zeichneten ihren Mund. Aber sie war noch charmanter als früher. Ein Gesicht so weiß wie Elfenbein, ohne den geringsten Anflug von Röte, ein kindliches Lächeln, traurige dunkelgelbe Bernsteinaugen. Der Satz von Carola war eine Wiederholung meines eigenen. Nur war sie natürlich tausendmal schlechter dran als ich, weil sie obendrein keine Sprache hatte. In der Zelle, in die man sie gesteckt hatte, sprach niemand Deutsch.
Und jetzt, wo sie sich an ein paar zufällige Sätze erinnert, die wir bei unserem ersten Treffen ausgetauscht haben, ist sie froh, dass sie einen Gesprächspartner gefunden hat, der ihre Sprache spricht, wenn auch mit Fehlern. Sie weiß nichts über ihren Mann. Aber sie ist sich sicher, dass er nicht mehr am Leben ist. Es trügt nicht, dieses Gefühl der unentrinnbaren, ewigen Einsamkeit, das Carola hier nun immer hat... Sie zeigt nicht auf ihr Herz, sondern auf ihre Kehle".

Jewgenija Ginsburg “Harte Marschroute”

Berliner Gedenktafel, Carola Neher, Fürstenplatz 2, Berlin-Westlend, Deutschland Quelle: Wikipedia
P.S. Und doch konnte ich in diesem Jahr das Gedicht von Carola Neer übersetzen.
Nicht für den kommerziellen Gebrauch.
Entwurf und Layout, Vorbereitung der Materialien:
Irina Shanaurina: shanaurina@gmail.com